"Ich packe meinen Koffer" - ein Text über Abschied und Erinnerungen
Ich packe meinen Koffer
Ich packe meinen Koffer und nehme mit den Lagerfeuerduft, der noch an meiner Ukulele haftet. Die Erinnerungen an lange, sternenklare Nächte voller Gitarrenklänge, Lebensfreude und Mückenstiche. Ich packe meinen Koffer und nehme mit den Dreck an meinen Wanderschuhen, den ich von den Alpen bis nach Tunja mitgeschleppt habe. Ich packe meinen Koffer und nehme mit die Erwartungen an das kommende Jahr. Die aufgeschobenen Dinge, die unerfüllten "das machen wir noch bevor ich weg bin"-Vorhaben. Ich packe meinen Koffer und nehme mit das zerknüllte Metroticket aus Paris, das ich in meinem Geldbeutel vergessen habe. Die alte Sonnenbrille, die seit dem letzten Festival kaputt in meinem Rucksack liegt - als hätte ich geahnt, dass sich die warmen Sommertage dem Ende neigten. Ich packe meinen Koffer und nehme mit zwei viel zu schwere Fotoalben - doch Erinnerungen wiegen nun mal viel. Und dieses Gewicht lastet nicht nur auf meinem Koffer, sondern auch auf mir. Mein Koffer hat Übergewicht, doch meine Gedanken auch - also packe ich wieder aus.
Meinen Koffer habe ich am Tag des Abflugs um zwei Uhr morgens ausgepackt, doch mit den Gedanken bin ich immer noch nicht fertig. Und dafür gibt es keinen Termin, an dem ich fertig sein muss, keinen letzten Aufruf für das Boarding.
Ich packe alle Erwartungen aus, die sowieso nicht erfüllt werden, alte Angewohnheiten, die mich nerven und zwei Packungen Gummibärchen, die als Gastgeschenk gedacht waren. Ich packe die Stimme aus, die mir sagt, dass der Moment, in dem ich realisiere, alles zurückzulassen, komme noch (denn der kommt erst zwei Wochen später wie ich mittlerweile weiß). Ich packe die gut gemeinten Ratschläge aus, mehr warme Klamotten mitzunehmen, was ich später noch bereuen werde. Ich packe den Gedanken aus, dass es jetzt wirklich so weit ist - ich nenne es lieber "auspacken" als verdrängen. Ich packe das große Spanisch-Lexikon aus, zusammen mit dem gescheiterten Vorhaben, die Sprache noch vor der Abreise zu lernen.
Ich packe weiter aus und ein und ein und aus bis mein Koffer nicht mehr wiegt als erlaubt. Zum Glück darf ich mit all den schweren Erinnerungen in den Flieger Richtung neuer Lebensabschnitt steigen, ohne Übergepäck zahlen zu müssen. Ein paar Kilogramm sollte ich aber vielleicht frei lassen - für ganz viele neue Geschichten, die später mal dicht gedrängt in einen neuen Koffer für eine neue Reise passen müssen.
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West Highland Way, Schottland 2016 - ich fand das Bild irgendwie passend zum Text |
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